Beschämung

Kreisendes Blaulicht vor dem Fenster. Mitten in der Nacht werde ich abgeholt. Mitten im stillen Schlummer der anderen. Ich bin jetzt ein Notfall. Alles bleibt zurück, auch der Gott der verschonten Tage. Der Gott des Gewohnten, des Wiederkehrenden, des Erwartbaren. Der Hüter meiner verschlafenen Nächte und meiner emsigen Tage. Der Gott meiner Tagzeitgebete für Traurige und Kranke. Ich lasse ihn zurück, als ich in den Krankenwagen steige. Ich bin jetzt selbst ein Gebetsfall. Man legt mich unter grelles Licht. Eine Nadel wird mir in die Haut gestochen. Tropfen für Tropfen verschwindet Flüssigkeit in meinem Körper. Elixiere der Schmerzlinderung. Als wir in der Klinik ankommen, übergibt man mich an die Welt der Aufzüge und der langen weißen Flure, durch die ich geschoben werde. Ich bin jetzt ein Liegender. Der aufrechte Gang ist mir ebenso abhanden gekommen wie mein eingewohntes Leben und der vertraute TagfürTagGott. Ich bin nun also ein Gottloser auf Zeit.

Das ist ein Fiasko für einen Geistlichen. Es irritiert mich, aber ich weiß, dass es nicht so bleiben wird. Es ist nie so geblieben. Der Geheimnisvolle hat sich immer finden lassen, irgendwie, irgendwo.

Man bringt mich ins Zimmer. Hier ist mein Platz für die nächste Zeit, mein Raum zum Leben. Im Nachbarbett liegt ein Neunzigjähriger. Ihm fehlt ein Bein und seine Frau fehlt ihm auch. Sie ist vor sechzehn Jahren gestorben. Seitdem läutet er die Glocken seiner katholischen Heimatkirche. Die Treppe zum Turm tut ihm weh. Trotzdem steigt er Sonntag für Sonntag hinauf. Tagsüber erzählt er mir davon und nachts höre ich sein flüsterndes Gebet: „Maria, voll der Gnaden...“. dutzendmal wiederholt. Und schließlich: „Ich stelle mich unter dein Kreuz, du Bruder der Schmerzen!“

Und plötzlich weiß ich: Da ist ER im Atem dieses Nachtgebetes. Da ist ER und ich brauche die wunderbar tiefe Volksfrömmigkeit eines einbeinigen Schmerzensglöckners, um IHN zu finden. Ich hätte es eigentlich wissen müssen. Schließlich habe ich es oft genug gepredigt. Aber nun brauche ich verzagter evangelischer Geistlicher das flüsternde Glaubenszeugnis eines katholischen Glockenläuters. „Ich stelle mich unter dein Kreuz, du Bruder der Schmerzen!“

Ich bin angekommen im Geheimnis des Glaubens. Ich bin angekommen, beschämt und dankbar. Gefunden vom Gott des Lebens.