10.10.2011
Eine neue Reformation bauen

Zwischen Tradition und neuen Wegen" sieht Paul Oestreicher, Meininger Ehrenbürger und Symbolfigur für Versöhnung und Menschenrechte, die evangelische Kirche. Bei seiner Predigt in der Meininger Stadtkirche machte er sich für Vertrauen in "neue Wege" stark.

In wenigen Tagen seinen 80. Geburtstag feiernd, war der Träger des Bundesverdienstkreuzes, der heute in Brighton (England) lebt, in seine Heimatstadt zurückgekehrt. Seine Predigt in der Stadtkirche in dem Gottesdienst zur Kirchweih wollten viele hören. Dass sie sich in der Weltkulturwoche, die für Toleranz und Verständnis wirbt, mit diesen Themen beschäftigt, war zu erwarten. Dass Dr. Paul Oestreicher - anglikanischer Pfarrer, emeritierter Domkapitular und ehemaliger Leiter des Versöhnungszentrums der Kathedrale von Coventry - vehement und deutlich die Erneuerung seiner Kirche fordert, hatte dagegen wahrscheinlich nicht jeder gedacht.

Vertreibung aus Meiningen

Kirchweih, so knüpfte er an den aktuellen Anlass an, sei Dankbarsein für die lange Geschichte dieser Kirche, das Behaftetsein in einer langen Tradition. Diese habe mit der jüdischen Tradition begonnen, führte er die Gottesdienstbesucher an Wurzeln zurück, die auch seine persönlichen sind. Diese hatten seinen Lebensweg mitbestimmt: Als Sohn eines jüdischstämmigen Vaters war er mit der Familie 1938 aus Meiningen vertrieben worden, obwohl sein Vater Paul Oestreicher, ein Kinderarzt, 1923 getauft worden war und auch der gleichnamige Sohn 1932 im Taufregister zu finden ist. "Und die Kirche hat sich gegen diese Vertreibung nicht gewehrt, das Wort des Führers galt mehr als das Evangelium", sagte der fast 80-Jährige. Allerdings habe es auch damals schon mutige Menschen gegeben, die Widerstand wagten. Erste Obhut habe seine Familie damals in einem evangelischen Haus in Eisenach gefunden, bei Familie Hertzsch. Klaus-Peter Hertzsch hatte das Lied geschrieben, das später im Gottesdienst erklang: "Vertraut den neuen Wegen".

Grenzen abbauen

Damit war Paul Oestreicher beim Thema: "Wir stehen zwischen Tradition und neuen Wegen", meinte er. "Die Liebe Gottes ist allumfassend und hat keine Grenzen - diese Erkenntnis müssen die Kirche und jeder einzelne noch lernen." Denn ständig würden neue Grenzen gebaut, schotte man sich ab, grenze andere aus - "der angeblichen Wahrheit wegen". Doch "Jesus zeigt, dass Gott die anderen genauso liebt wie uns", nahm er Bezug auf das Lukasevangelium, aus dem gelesen worden war. "In dem Moment, in dem wir jemanden verachten, haben wir den Weg der Liebe Gottes verlassen", sagte Oestreicher. Ein Beispiel: Freilich seien progressive Christen gegen Rechts - aber die Menschen, deren Ideen man sehr wohl bekämpfen müsse, seien von Gott genauso geliebt wie andere. Das gelte "auch für ehemalige Stasi-Leute oder andere, die wir nicht leiden können".

Reformation der Kirche

Die Israelis wollten dies heute nicht hören, wenn es um die Palästinenser gehe, schweifte er mit den Gedanken aus der Meininger Kirche in die Welt hinaus, und auch der Papst sei ein "Gefangener einer Tradition, aus der er nicht aussteigen kann", meinte Oestreicher. Dabei solle Kirche eigentlich "Feindschaft und Krieg entschlossen bekämpfen, hätte sie den Mut dazu", sagte der Wartburgpreisträger, der völlig frei predigte. Kirche müsse sich reformieren, hieß es mit Blick auf Luther: So wie dieser damals gesagt habe, so geht es nicht weiter mit der katholischen Kirche, so müsse man heute sagen: So geht es nicht weiter mit der evangelischen Kirche. "Wir müssen gemeinsam mit den katholischen, jüdischen, islamischen Menschen eine neue Reformation bauen", so Oestreichers Vision.

Der "Zeitgeist" könne nicht nur Fluch, sondern eine Lehre für die Christen sein. Wieder zeichnete Paul Oestreicher ein Beispiel: Die Christen hätten Homosexuelle als Sünder herausgetrieben, doch das sei ein grundlegender Irrtum. Jeder zehnte Mensch werde so geboren. Er trage mit Absicht die Regenbogenstola, die schwule Gemeinschaften zu ihrem Symbol machten - die bunte Gemeinschaft der Vielfalt darstellend.

Mauern müssen die Menschen abreißen, wenn es für die Kinder eine Zukunft in Frieden geben soll - denn Mauern führten immer wieder zu Krieg. Diesen geißelte Paul Oestreicher als "etwas wie Sklaverei, etwas von gestern". Frieden dagegen sei die "Voraussetzung für eine etwas bessere Welt - und für die müssen Menschen arbeiten, solange es Menschen gibt." Eine perfekte Welt werde es nicht geben, aber als Einzelner, als Gemeinschaft, als Völkergemeinschaft habe man "die grenzenlose Möglichkeit, zu einer Vielvölkergemeinschaft der Liebenden zu werden - das ist die Aussage des Evangeliums!"

Böses mit Liebe besiegen

Keine Absage an die Tradition, an die Dankbarkeit, sollte diese Predigt sein, betonte Paul Oestreicher. Es gebe eine reiche Tradition in Europa - aber etwa auch die der Maori in Neuseeland, wo er zeitweise Zuflucht gefunden hatte. "Sie wissen auch ums Frieden schaffen und Kriege führen - sie sind nicht anders als wir." Von Neuseeland aus hatte seine Mutter übrigens Hilfe für hungernde Meininger nach dem Krieg organisiert, flocht er ein.

"Wenn wir auf Jesus bauen, dann kann jeder von uns ein Stück Himmelreich bauen - wir können das Böse mit Liebe besiegen", so der Pfarrer. Nach dem Gottesdienst, der von Orgelklang und dem Gesang des Kammerchores Meiningen und der Stadtkantorei von Stuttgart-Degerloch unter Leitung von Sebastian Fuhrman umrahmt wurde, wurde noch zu einem kleinen Kirchweihfest vor und in der Kirche eingeladen. Viele Hände schüttelten Paul Oestreicher, der in seinem weißen Gewand von den beiden anderen Geistlichen abstach, sowie Superintendentin Beate Marwede und Pfarrer Christoph Knoll. Und bei Bier und Thüringer Rostbratwurst ließ es sich auch Paul Oestreicher wohl sein: Auf dem Meininger Markt sein und keine Bratwurst essen, das wäre ja wohl ein Traditionsbruch, sagte er schmunzelnd.

Es war nicht das erste Mal, dass Oestreicher in der Meininger Stadtkirche gepredigt hatte. An die Predigt zur 1000-Jahrfeier von Meiningen erinnerte er sich noch recht gut: Es sei ein Kampf mit den DDR-Oberen gewesen, dass er damals habe sprechen können. In Stasiakten habe er die Predigt wörtlich wiedergefunden ...

Für seine jetzige Predigt bedankten sich viele Menschen bei ihm, auch Katholiken sprachen ihn an. "Gänsehaut pur", meinten zwei jüngere Besucher des Gottesdienstes.

Mehr Informationen über Paul Oestreicher: http://de.wikipedia.org/wiki/Paul_Oestreicher


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