„Verzeih, Georg, verzeih!“

Ich laufe über einen fremden Friedhof und stehe plötzlich vor einem außergewöhnlichen Grab. Auf dem Stein, in dicker, schon etwas verwitterter Schrift: „Verzeih, Georg, verzeih!“

Darunter, viel kleiner, viel unscheinbarer: „Marie.“

Keine Daten, aber ein ungewöhnliches Zitat an diesem Ort: „Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.“

Ich spreche eine alte Dame an. Sie führt mich zum Denkmal für die Gefallenen der Kriege.

„Da!“, sagt sie und zeigt auf einen Namen.

„Der Georg“, frage ich?
Sie nickt.

„Was ist passiert?“, frage ich.

„Gehen Sie zum Schmied. Er wird es Ihnen erzählen. Ich kann das nicht. Ich hab die Marie zu lieb gehabt und den Georg auch. Für mich blühen die Rosen auf diesem Grab übrigens immer. Anders kann ich es nicht aushalten.“

Der Schmied sitzt vor seinem Häuschen.

„Georg ist im November 1944 gefallen“, sagt er. „Erst hat er seinen Heimaturlaub abgebrochen und dann wollte er unbedingt an die vorderste Front. Als Kanonenfutter, wie die Soldaten das nannten. Zwei Tage hat er überlebt, den dritten nicht mehr. Als die Todesnachricht kam, ist die Marie ins Wasser gegangen. Sie hatte sich ein Schild um den Hals gehängt. Darauf stand: Verzeih, Georg, verzeih! In ihrem Abschiedsbrief hat sie verfügt, dass diese Bitte aus dem Vaterunser auf ihrem Grabstein stehen soll. Sie konnte die lange Zeit ohne Georg damals einfach nicht aushalten, wissen Sie? Sie hat es nicht geschafft. Als er auf Heimaturlaub kam, lag sie in den Armen eines Anderen. Aber die Marie war so jung und so wunderschön. Man muss doch vergeben, nicht wahr? Wie soll es denn sonst gehen in dieser Welt? Man muss doch vergeben.“

Ich bedanke mich bei ihm. Plötzlich höre ich die Spieldosenmusik meines Sehnsuchtsglaubens in mir und sehe die beiden zueinandergeliebt drüben in Gottes Anderwelt. Es ist die Melodie meiner Kindskopfhoffnung. Sie ist ein bisschen kunterbunt, aber ich mag sie sehr. Sie vertröstet nicht, sie öffnet.

Das Vaterunser bete ich seitdem anders. Wenn es heißt: „So wie wir vergeben unsern Schuldigern“, dann sehe ich die Marie und den Georg und die Rosen, die immer blühen müssen. Immer! Denn: „Dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit.