Eine andere Blickrichtung

Auf dem Weg in den Urlaub. Mit dem voll bepackten Auto gehts zeitig am Morgen an Eisenach vorbei Richtung Kassel - durch die ersten Nebelbänke hindurch. Na, das kann was werden. Am Nachmittag muss pünktlich die Fähre in Holland erreicht werden, damit Borkum für die nächsten zwei Wochen Erholung pur bedeuten kann.

Doch das Wetter macht nicht mit. Je näher das Auto der Küste kommt, desto stärker wird der Regen. Fäden von Regen erwarten uns schließlich vor dem Hafengebäude, in dem Karten und Papier vorgelegt werden müssen; die Insel ist bereits im Nebeldunst verschwunden. Das Gedicht Theodor Storms „Die Stadt“ steigt auf.

Die erste Strophe scheint den Augenblick zu beschreiben: Grauer Strand und graues Meer und Nebel, der auf Dächer drückt. Die zweite des dreistrophigen Gedichtes beschreibt Töne, die der Dichter in seiner Heimatstadt schmerzlich vermisst: Rauschen der Wälder und Singen der Vögel. - Was hält ihn dann eigentlich noch an diesem Ort, wo alles grau und rau und monoton erscheint?

Die dritte Strophe überrascht, reißt aus der bisherigen Tristesse und gibt Antworten in mehrfachen persönlichen Anreden dieser grauen Stadt: Der Zauber der Jugend und tiefe Erfahrungen liegen auf ihr und entlocken dem Dichter ein inniges Lächeln und sein ganzes Herz. - Seltsam, wie eine äußerlich unscheinbare, unspektakuläre Sache durch eine persönliche Vertrautheit eine ganz andere Blickrichtung und eine völlig andere Bewertung ermöglicht!

Wir brauchen immer wieder solche Blickwechsel, gerade wenn wir dem grauen Alltag zu erliegen drohen. Es ist auch ein Kennzeichen eines Glaubenslebens, dass unerwartet und frisch immer wieder Perspektivwechsel von Gott her gegeben werden.

Vor nahezu 2600 Jahren erging ein Wort durch den Propheten Jeremia an Juden in der Deportation. Sie lebten in einem Ghetto und litten darunter, dass Jerusalem zerstört und ihr König entmachtet wurde, der Tempel verbrannt war, und sie kein eigenes Land mehr besaßen. Wie sollte es für sie weitergehen?

In diese Situation hinein erreichte sie der unerwartete Aufruf: „Suchet der Stadt Bestes, … und betet für sie zum HERRN.“ (Jeremia 29, Vers 7.) Im Urtext heißt es wörtlich: „Trachtet nach Frieden.“ Hier also sollen sie sich um Stabilität, Frieden und das Wohl der Stadt aktiv mühen. Sie sollen sich nicht zurückziehen, nicht abgrenzen oder „hinter den Gardinen Gesicht und Meinung versteckten.“


Oliver-Michael Oehmichen, Prediger in Suhl