Dieser eine Moment

Eine von unten beleuchtete Glasplatte. Eine dünne Schicht Sand - rundkörnig und ganz fein - bedeckt sie.

Von rechts nach links zieht eine Hand, mit Mittel- und Zeigefinger, im oberen Drittel den gedachten Horizont in den Sand.

Dann setzt sie neu an. Wieder an der rechten Seite. Die Finger bewegen sich jetzt über dem Horizont, in unregelmäßigen Linien, 6 cm nach oben, dann nach unten, wieder hoch, etwas höher und finden, in diesem Ablauf ihren Weg auf die linke Seite.

Das Licht strahlt durch die Linien die frei geräumt wurden vom Sand, und das Auge erkennt eine Gebirgsformation. Durch den verschobenen Sand, der in mehreren Schichten übereinander liegt, ergeben sich die Schatten.

Die Finger gestalten nun den Vordergrund. Eine Menschengruppe. Einzelne Gesichter werden vergrößert dargestellt. Sie sind so filigran gearbeitet, dass man deutlich erkennt, wie aufgebracht sie sind. Ein Frauengesicht schaut ängstlich aus dem Bild.

Büsche entstehen, nahe am Horizont, auf der rechten Seite. Davor hockt ein Mann, der Blick ist gesenkt. Er schaut vor sich auf den Boden. Er gehört wohl nicht zu dieser Gruppe? Oder doch? Mit zwei Fingern zeichnet er eine Linie, von rechts nach links, für einen gedachten Horizont. Zeichnete er nach, was ist? Was war oder wird? Denkt er nach?

Manchmal, wenn es schwierig wird in Telefonaten oder bei Sitzungen, bei denen ich zuhöre, beginne ich Linien in meine Unterlagen zu zeichnen. Das verschafft mir einen Moment des Innehaltens. Ich folge nicht gleich dem ersten Impuls und beginne zu reden. Nein, ich zeichne Linien, sortiere mich und das, was ich sagen möchte.

Die Hand wischt über den Hockenden, wedelt die dünne Schicht Sand glatt. Die Finger gestalten den Mann neu. Stehend jetzt, der Gruppe und der Frau zugewandt. Als holte er gerade Luft. Man sieht, das er gleich sprechen möchte.

Ich bin froh, diesen einen Moment zu haben, bevor ich antworte. Hören, sortieren und dann sagen, was man sagen möchte.

Nur dieser eine Moment, und gerade er bewahrt mich davor, Dinge zu sagen, die sich nicht einfach wegwischen lassen, die andere ängstlich zurück lassen, die nicht zu ertragen sind. Gut ist es für mich und für andere, einen Moment zwischenzuschalten zwischen Hören und Antworten oder Tun. Ich denke, diese Momente schenken Besonnenheit im Umgang mit mir selbst und mit den anderen. Und das brauchen wir gerade sehr dringend.

Die Hand wischt über die Platte und der Sand liegt wieder glatt. Von rechts nach links zieht sie den gedachten Horizont.

Bleiben Sie behütet.

Pfarrerin Birgit Molin