Christus entstauben

Es ist grad alles anders: Wartezeit. Stille Zeit. Die Kirche bleibt leer, auch sonntags.

Also nehme ich mir am Montag die Sakristei vor: Aufräumen, ordnen, Staub jagen. Es ist ein großes Finden ohne Suchen: Unmengen an Christbaumkugeln, viele aus längst vergangenen Zeiten. Kerzen, die man neu sortieren und zur heiligen Lichtnutzung vorbereiten kann. Und dann, ja dann: Ein Kruzifix. Es stand ein bisschen im Verborgenen. Vorsichtig ziehe ich es hervor. Es ist so schön, wie ein Kruzifix eben sein kann: Traurig schön. Ich wasche den Christus sorgsam ab. Ich trockne ihn. Mein „Elsterglanz“ aus DDR-Zeiten hole ich nicht. Christus soll nicht glänzen. Ich weiß, dass er das nicht will.

Ich drehe das Kruzifix herum. Auf der Rückseite steht die Jahreszahl „1923“ und der Name einer Familie, aber kein Ort. Dieser Christus wird bald hundert. Irgendwann hat man ihn im Pfarramt abgegeben. Vielleicht stand er einmal auf einem Hausaltar und hat dort auch flehenden Glauben in bangen Zeiten erlebt, so wie wir gerade. Es kamen ja dann Inflation, zweiter Weltkrieg, Flucht- und Hungerzeiten und all die heißen Gebete dazu.

Ich baue einen kleinen Altar in unserer Sakristei: Ein Tisch, zwei Kerzen und der gekreuzigte Christus aus dem Jahr 1923.

„Ich hole dich ans Licht, Bruder Jesus, du Gefährte unserer jubelnden Freuden und bitteren Leiden und all dessen dazwischen. Ich hole dich ans Licht, und morgen früh bete ich mal hier in der Sakristei."

Vor dir für uns.

Alle eure Sorge werft auf ihn; denn er sorgt für euch. 1. Petrus 5,7